Sonntag, 3. Juni 2012

Identität

Identität hat jeder, denn jeder ist etwas. Doch was ist die innere Einheit? Was ist Authentizität schon, wenn ein Mensch in Wirklichkeit bloß tausend Abdrücke jener Einflüsse ist, die ihn sein Leben lang beeinflusst haben? Ist dieses Bündel Mensch dann überhaupt noch echt? Hat er dann eine Identität? Und wenn er eine hat, wie baut er sie sich dann auf? Welche Gedanken oder Gefühle bringen ihn dazu, ein schräges Bild von sich selbst an der Wand des eigenen Herzens aufzuhängen? 
Wer bist du? Wer bin ich? Bist du wirklich ein Individuum oder bloß ein Exemplar? Wer kann dem eisig kalten Wind standhalten, der dir um die Ohren weht, sobald ein jeder Mensch an der Klippe steht, sich bisweilen an die gewohnten Erfahrungen klammert, sich verzweifelt wünscht, wieder Kind zu sein und sein ganzes Leben nicht mehr voran zu kommen, weil diese Sehnsucht viel zu besitzergreifend, viel zu zentral, viel zu wichtig ist. Und dann gibt es wiederum jene, die sich unverkennbar für einen Weg entscheiden. Entweder, sich von der Klippe zu differenzieren, oder ewig in den Abgrund zu starren, ohne weiter zu gehen. Oder gibt es vielleicht sogar jene, die springen würden? 
Unsere Entscheidungen sind wichtig und kostbar, so scheint es mir. Dennoch... 
was ist letztlich hinter diesen tausend Einflüssen, die unsere eigene Person seit unserer Geburt beeinflussen? Was sind wir dann, wenn wir bloß aus Einflüssen bestehen? Sind wir etwa ein Sammelbecken unserer empirischen Schritte? Sind wir letztendlich nicht, und das Bestreben, der zu werden, der man ist, somit sinnlos? 
Eine Einheit muss man werden. Eine Einheit kann jeder Mensch sein - prinzipiell, hypothetisch oder wie auch immer. Ist das, was wir fühlen, letztendlich auch bloß ein dürrer Schatten dessen, was uns beeinflusst? Noch immer bin ich einzeln, unfähig, die Schale zu durchbrechen, um ich zu werden, schlichtweg, weil ich mich davor fürchte, was auf mich wartet, sobald ich meinen Kopf stolz aus dem zerbrochenem Ei recke und mir den weiten Himmel anschaue, die Menschen beobachte - und hoffentlich erkenne. 
Tatsächlich gibt es Menschen, die sich darüber keine Gedanken machen. Sie leben, ohne je darüber zu grübeln, ob sie letztlich eine Identität haben, etwas sind oder eben nicht. Es gibt jene, für die zählt bloßer Erfolg, und wiederum andere, die höchstwahrscheinlich weitaus klüger sind als ich, und sich schon gefunden haben, wissen, wer sie sind. 
Ich will keine Kopie von einem Jemand werden, und ich will auch kein Niemand sein, sondern bloß ich. Will nicht jeder Mensch bloß leben? Warum ist dies aber genauso schwer? 

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